Das Märchen vom guten Internet oder Das Internet-Manifest

Gestern um 11:55 veröffentlichten Deutschlands A-Blogger oder jene, die sich dafür halten, ein Internet-Manifest. Eine sehr theatralische Geste, wobei die UnterzeichnerInnen eine Erklärung schuldig bleiben, wofür es denn jetzt 5 Minuten vor zwölf sei. Außer österreichischer Sicht ist die Debatte auch lange nicht so heiß wie in Deutschland, sieht man einmal von einem dummen ÖVP/Grüne Beschluss im oberösterreichischen Landtag für Internetsperren ab, haben wir zum Glück keine Zensursula, die ohne Sinn die Meinungsfreiheit beschränkt. Die Debatte Blogs versus klassische Medien ist bei uns ebenfalls sehr handzahm und beim Urheberrecht hüpft uns Deutschland ebenfalls alle möglichen Grauslichkeiten vor, die zwar APA und VÖZ gerne auch bei uns verwirklicht sehen würden, aber damit derzeit dezent ignoriert werden. Ein solches Manifest ist in Österreich also in dieser dramatischen Form nicht nötig. Beim vorliegenden Manifest muss ich mich dann allerdings wundern. Die offensichtliche Vorlage des Cluetrain-Manifest erreicht es stilistisch und inhaltlich bei weitem nicht. Es enthält überwiegend verallgemeinernde Phrasen und schräge Hypothesen. Web und Internet werden konsequent gleichgesetzt und als gesellschaftliches, wirtschaftliches und soziales Allheilmittel dargestellt.

1. Das Internet ist anders.

Es schafft andere Öffentlichkeiten, andere Austauschverhältnisse und andere Kulturtechniken. Die Medien müssen ihre Arbeitsweise der technologischen Realität anpassen, statt sie zu ignorieren oder zu bekämpfen. Sie haben die Pflicht, auf Basis der zur Verfügung stehenden Technik den bestmöglichen Journalismus zu entwickeln - das schließt neue journalistische Produkte und Methoden mit ein.
Prinzipiell richtig. Die große Revolution bleibt aber aus. Spiegel Online hat nach wie vor die meisten Verlinkungen in deutschen Blogs. Die klassischen Medien sind nach wie vor Leitmedien und die Öffentlichkeit im Netz ist lediglich eine kleine, wenn auch lautstarke Teilöffentlichkeit. Trotzdem gehen Blogs und Microblogs dem Großteil der Menschen am A vorbei.

2. Das Internet ist ein Medienimperium in der Jackentasche.

Das Web ordnet das bestehende Mediensystem neu: Es überwindet dessen bisherige Begrenzungen und Oligopole. Veröffentlichung und Verbreitung medialer Inhalte sind nicht mehr mit hohen Investitionen verbunden. Das Selbstverständnis des Journalismus wird seiner Schlüssellochfunktion beraubt - zum Glück. Es bleibt nur die journalistische Qualität, die Journalismus von bloßer Veröffentlichung unterscheidet.
Als ob es im Netz keine Copycats gäbe, die ebenfalls nur bereits Veröffentlichtes weiter verbreiten. Das ist prinzipiell nichts schlechtes. Warum wird das überhaupt bei den Offline-Medien kritisiert, wenn diese Meldungen von Agenturen übernehmen?

3. Das Internet ist die Gesellschaft ist das Internet.

Für die Mehrheit der Menschen in der westlichen Welt gehören Angebote wie Social Networks, Wikipedia oder Youtube zum Alltag. Sie sind so selbstverständlich wie Telefon oder Fernsehen. Wenn Medienhäuser weiter existieren wollen, müssen sie die Lebenswelt der Nutzer verstehen und sich ihrer Kommunikationsformen annehmen. Dazu gehören die sozialen Grundfunktionen der Kommunikation: Zuhören und Reagieren, auch bekannt als Dialog.
Wenn das Internet die Gesellschaft ist, warum werden dann Medienhäuser aus dieser Gesellschaft ausgegrenzt. Schöner Allgemeinplatz übrigens.

4. Die Freiheit des Internet ist unantastbar.

Die offene Architektur des Internet bildet das informationstechnische Grundgesetz einer digital kommunizierenden Gesellschaft und damit des Journalismus. Sie darf nicht zum Schutz der wirtschaftlichen oder politischen Einzelinteressen verändert werden, die sich oft hinter vermeintlichen Allgemeininteressen verbergen. Internet-Zugangssperren gleich welcher Form gefährden den freien Austausch von Informationen und beschädigen das grundlegende Recht auf selbstbestimmte Informiertheit.
Internetsperren sind scheiße, keine Frage. Vielleicht sollte man das auch berücksichtigen, wenn der nächste A-Blogger Werbung für Vodafone macht.

5. Das Internet ist der Sieg der Information.

Bisher ordneten, erzwungen durch die unzulängliche Technologie, Institutionen wie Medienhäuser, Forschungsstellen oder öffentliche Einrichtungen die Informationen der Welt. Nun richtet sich jeder Bürger seine individuellen Nachrichtenfilter ein, während Suchmaschinen Informationsmengen in nie gekanntem Umfang erschließen. Der einzelne Mensch kann sich so gut informieren wie nie zuvor.

6. Das Internet verändert verbessert den Journalismus.

Durch das Internet kann der Journalismus seine gesellschaftsbildenden Aufgaben auf neue Weise wahrnehmen. Dazu gehört die Darstellung der Information als sich ständig verändernder fortlaufender Prozess; der Verlust der Unveränderlichkeit des Gedruckten ist ein Gewinn. Wer in dieser neuen Informationswelt bestehen will, braucht neuen Idealismus, neue journalistische Ideen und Freude am Ausschöpfen der neuen Möglichkeiten.
Falsch. Genauso wenig, wie man davon ausgehen kann, dass alles stimmt, was in den klassischen Medien steht, gilt das auch fürs Internet. Wie ein Strudlteig zeiht sich das naive Bild vom guten Netz durch dieses Manifest. Aber das Netz ist nicht gut oder schlecht, es ist einfach praktisch, man kann damit gute oder böse Dinge machen, Information und Desinformation sind beide möglich.

7. Das Netz verlangt Vernetzung.

Links sind Verbindungen. Wir kennen uns durch Links. Wer sie nicht nutzt, schließt sich aus dem gesellschaftlichen Diskurs aus. Das gilt auch für die Online-Auftritte klassischer Medienhäuser.

8. Links lohnen, Zitate zieren.

Suchmaschinen und Aggregatoren fördern den Qualitätsjournalismus: Sie erhöhen langfristig die Auffindbarkeit von herausragenden Inhalten und sind so integraler Teil der neuen, vernetzten Öffentlichkeit. Referenzen durch Verlinkungen und Zitate – auch und gerade ohne Absprache oder gar Entlohnung des Urhebers – ermöglichen überhaupt erst die Kultur des vernetzten Gesellschaftsdiskurses und sind unbedingt schützenswert.
Beides ist 100% richtig. Leider geht gerade die Verlinkung in den deutschen Blogs immer stärker zurück.

9. Das Internet ist der neue Ort für den politischen Diskurs.

Demokratie lebt von Beteiligung und Informationsfreiheit. Die Überführung der politischen Diskussion von den traditionellen Medien ins Internet und die Erweiterung dieser Diskussion um die aktive Beteiligung der Öffentlichkeit ist eine neue Aufgabe des Journalismus.
Schön wär's. Aber leider spielen Blogs und Twitter auch weiterhin nur eine sehr untergeordnete Rolle in der politischen Wahrnehmung und der politischen Öffentlichkeit. Das was ich an Blogs so schätze ist die meist sehr offene Diskussion und die Möglichkeit auch ungewöhnliche Vorschläge und Gedanken veröffentlichen zu können. Einen wertvollen politischen Diskurs gibt es aber nur so lange, wie die Teilnehmerzahl bzw. der Leserkreis eingeschränkt ist. Gerade große Medienpages wie zum Beispiel derstandard.at oder auch diepresse.com beweisen, dass mit zunehmender Reichweite die Qualität des politischen Diskurses objektiv leidet.

10. Die neue Pressefreiheit heißt Meinungsfreiheit.

Artikel 5 des Grundgesetzes konstituiert kein Schutzrecht für Berufsstände oder technisch tradierte Geschäftsmodelle. Das Internet hebt die technologischen Grenzen zwischen Amateur und Profi auf. Deshalb muss das Privileg der Pressefreiheit für jeden gelten, der zur Erfüllung der journalistischen Aufgaben beitragen kann. Qualitativ zu unterscheiden ist nicht zwischen bezahltem und unbezahltem, sondern zwischen gutem und schlechtem Journalismus.
Also ich wüsste schon gerne, ob ein Artikel bezahlt oder unbezahlt geschrieben wurde. Aber das ist ein Problem von Blogs und klassischen Medien.

11. Mehr ist mehr – es gibt kein Zuviel an Information.

Es waren einst Institutionen wie die Kirche, die der Macht den Vorrang vor individueller Informiertheit gaben und bei der Erfindung des Buchdrucks vor einer Flut unüberprüfter Information warnten. Auf der anderen Seite standen Pamphletisten, Enzyklopädisten und Journalisten, die bewiesen, dass mehr Informationen zu mehr Freiheit führen - sowohl für den Einzelnen wie auch für die Gesellschaft. Daran hat sich bis heute nichts geändert.
Natürlich gibt es auch zu viel Information. Genau deswegen bezahlen wir Gatekeeper entweder mit Geld oder mit Aufmerksamkeit.

12. Tradition ist kein Geschäftsmodell.

Mit journalistischen Inhalten lässt sich im Internet Geld verdienen. Dafür gibt es bereits heute viele Beispiele. Das wettbewerbsintensive Internet erfordert aber die Anpassung der Geschäftsmodelle an die Strukturen des Netzes. Niemand sollte versuchen, sich dieser notwendigen Anpassung durch eine Politik des Bestandsschutzes zu entziehen. Journalismus braucht einen offenen Wettstreit um die besten Lösungen der Refinanzierung im Netz und den Mut, in ihre vielfältige Umsetzung zu investieren
Diese vielen Beispiele würden mich wirklich brennend interessieren. Zumindest für Österreich behaupte ich, dass es keinen einzigen Journalisten oder Blogger gibt, der nur online sein Geld verdient. Auch in Deutschland ist das bestenfalls eine Handvoll.

13. Im Internet wird das Urheberrecht zur Bürgerpflicht.

Das Urheberrecht ist ein zentraler* Eckpfeiler der Informationsordnung im Internet. Das Recht der Urheber, über Art und Umfang der Verbreitung ihrer Inhalte zu entscheiden, gilt auch im Netz. Dabei darf das Urheberrecht aber nicht als Hebel missbraucht werden, überholte Distributionsmechanismen abzusichern und sich neuen Vertriebs- und Lizenzmodellen zu verschließen. Eigentum verpflichtet.
Das Urheberrecht ist vielmehr der zentrale Hemmschuh für die geistige Entwicklung der Menschheit, warum das jetzt plötzlich ein zentraler Eckpfeiler sein soll, entzieht sich meiner Kenntnis, aber wahrscheinlich ist das jetzt nur unglücklich formuliert.

14. Das Internet kennt viele Währungen.

Werbefinanzierte journalistische Online-Angebote tauschen Inhalte gegen Aufmerksamkeit für Werbebotschaften. Die Zeit eines Lesers, Zuschauers oder Zuhörers hat einen Wert. Dieser Zusammenhang gehört seit jeher zu den grundlegenden Finanzierungsprinzipien für Journalismus. Andere journalistisch vertretbare Formen der Refinanzierung wollen entdeckt und erprobt werden.
Schönfärberei. Leider wurden diese anderen Formen der Refinanzierung noch nicht in ausreichenden Maß entdeckt und erforscht. Für den Großteil der Journalisten/Autoren funktioniert das Netz als reine Einnahmequelle einfacht (noch ) nicht.

15. Was im Netz ist, bleibt im Netz.

Das Internet hebt den Journalismus auf eine qualitativ neue Ebene. Online müssen Texte, Töne und Bilder nicht mehr flüchtig sein. Sie bleiben abrufbar und werden so zu einem Archiv der Zeitgeschichte. Journalismus muss die Entwicklungen der Information, ihrer Interpretation und den Irrtum mitberücksichtigen, also Fehler zugeben und transparent korrigieren.
Das stimmt leider nur für ganz prominente Beispiele. Ganz bestimmt wird man über Sascha Lobos Vodaphone Flop auch noch in zehn Jahren irgendwo im Netz lesen können, aber würde ich zum Beispiel meinen Blog heute offline nehmen, könnte man schon sehr bald keinen einzigen Artikel mehr im Volltext irgendwo abrufen. Die Überschrift mutet eher wie ein Text eines Onlinereputationsfetischisten an.

16. Qualität bleibt die wichtigste Qualität.

Das Internet entlarvt gleichförmige Massenware. Ein Publikum gewinnt auf Dauer nur, wer herausragend, glaubwürdig und besonders ist. Die Ansprüche der Nutzer sind gestiegen. Der Journalismus muss sie erfüllen und seinen oft formulierten Grundsätzen treu bleiben.
Da wird wiedermal das Netz als Allheilmittel hochstilisiert. Medieninhalte sind nunmal zum Großteil gleichförmige Massenware, ob das jetzt Bauer sucht Frau oder das neueste Dumpfbackenpornovideo vonParis Hilton ist, ist egal. Beides wird immer stärker rezipiert werden als Die Sendung ohne Namen oder irgendein tolles Blog.

17. Alle für alle.

Das Web stellt eine den Massenmedien des 20. Jahrhunderts überlegene Infrastruktur für den gesellschaftlichen Austausch dar: Die “Generation Wikipedia” weiß im Zweifel die Glaubwürdigkeit einer Quelle abzuschätzen, Nachrichten bis zu ihrem Ursprung zu verfolgen und zu recherchieren, zu überprüfen und zu gewichten – für sich oder in der Gruppe. Journalisten mit Standesdünkel und ohne den Willen, diese Fähigkeiten zu respektieren, werden von diesen Nutzern nicht ernst genommen. Zu Recht. Das Internet macht es möglich, direkt mit den Menschen zu kommunizieren, die man einst Leser, Zuhörer oder Zuschauer nannte - und ihr Wissen zu nutzen. Nicht der besserwissende, sondern der kommunizierende und hinterfragende Journalist ist gefragt.
Sehr schöner Schlusssatz. Wenn nur die anderen 16 Punkte auch so gewesen wären. Ich habe übrigens bewusst drauf  verzichtet die notwendige Trennung zwischen Internet und Web vorzunehmen, weil das die Autoren auch nicht getan haben. Alles in allem eine schöne Vorstellung eines sehr naiven Netzbegriffs von der guten Online-Welt gegen die böse Offline-Welt.
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